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Aktuelles W.-G.-Sebald-Literaturpreis

Interview mit der W.-G.-Sebald-Preisträgerin Kirsten Fuchs

Die W.-G.-Sebald-Literaturpreisträgerin über ihren Text »Sneaker«, ihr Verhältnis zu Sebald und das Thema »Natur und Zerstörung« sowie über Publikum und literarische Öffentlichkeit.

Um gleich neugierig mit der Tür ins Haus zu fallen – wie entstand die Idee zu Ihrer Erzählung „Sneaker“? Gab es den Text bereits, als Sie von der Ausschreibung zum W.-G.-Sebald-Literaturpreis 2022 erfahren haben?

Den Text gab es noch nicht, als ich von dem Preis erfahren habe, aber eine ähnliche Textidee existierte schon länger in meinem Kopf. Allerdings hat sich der Kern dieser ursprünglichen Idee sehr verändert.

In der ursprünglichen Idee gab es eine Gesellschaft, in welcher in der Mitte des Lebens das Geschlecht gewechselt wird. Ich wollte diesen Prozess beschreiben bzw. erzählen, dass es auch bei dieser Gesellschaft zu Ungleichheit zwischen den Geschlechtern kommt, da zwar alle Mann und Frau sind in ihrem Leben, aber es eine Rolle spielt, ob man eine junge Frau oder ein junger Mann ist bzw. war und dann ein älterer Mann oder eine ältere Frau sein wird oder ist. Die Aufzucht der Kinder sollte in diesem Text auch größtenteils den Gebärenden zugewiesen werden.

Dieser Text sollte in der Zukunft spielen und die Idee ist ungefähr zehn Jahre schon da. Als ich nach Abgabe meines Romanmanuskriptes Zeit hatte, wollte ich den Text beginnen, aber durch die Coronaerfahrungen und das überlebensgroße Thema des Klimawandels rückten Themen wie aussterbende Insekten, überhaupt Tiere, Unwetter, Isolation, mentale Gesundheit und Anpassung und Überlebensstrategien des Menschen in den Vordergrund. Als ich zu Hause saß und für mein großes Kind nach Turnschuhen bei eBay Kleinanzeigen suchte, tauchte die Stimme von Sneaker auf und hatte ziemlich viel zu sagen. Das alles passte zu der Ausschreibung des W.-G.-Sebald-Preises und das motivierte mich, den Text voranzutreiben.


Ist W. G. Sebald ein Autor, dessen Werk Ihnen bekannt ist und vielleicht auch eine besondere Bedeutung für Sie hat?

Ich kannte den Namen, weil er von anderen immer ehrfürchtig genannt wurde, allerdings waren das oft Menschen, mit denen meine Lesevorlieben nicht unbedingt übereinstimmten, sodass ich noch gar nicht dazu gekommen war, zumal ich seit ein paar Jahren versucht habe, verstärkt Schriftstellerinnen zu lesen und darum Sebald nicht auf meiner Leseliste stand.

Ich habe jetzt „Austerlitz“ als Hörbuch gehört und das sehr genossen, bewundert, inspirierend gefunden, aber vor allem hat es bei mir bewirkt, darüber nachzudenken, warum Literatur erfolgreich wird oder nicht, wie ich mit autobiografischem Material umgehe, ob Männer anders schreiben als Frauen.


Unterthema der Ausschreibung war ja „Natur und Zerstörung“ – in Sebalds Werk ein zentrales Thema: der Mensch als Umweltzerstörer, aber auch als Teil der selbstzerstörerischen Natur. Dieser Konflikt spielt auch in Ihrem Text eine große Rolle; wir erfahren – aus der Perspektive der 16jährigen, geschlechtlich offen konzipierten Hauptfigur Sneaker – von einer Natur und Welt, die in verschiedener Hinsicht aus den Fugen geraten ist. Was interessiert Sie an dieser Konstellation?

Ich glaube, ich konnte mir nicht mehr vorstellen, weiter Romane zu schreiben, die in einer intakten Natur spielen oder nicht mit einbeziehen, wie stark sich alles verändern wird in Zukunft. Also habe ich den Text gleich in eine Zukunft verlegt.


Sebald zielte mit seinem typischen Schreibstil, dem Kontrast aus nüchterner Faktenbeschreibung und eindringlicher Darstellung einer Gefühlswelt, auf eine Irritation beim Lesen. Auch Ihr Text irritiert beim Lesen. Die jugendliche Hauptfigur bewegt sich in einer nahen Zukunft in einem aseptischen, überregulierten Raum. Ganz auf Sicherheit ausgerichtet sollen die vier Wände – mit Hilfe von perfiden Computerprogrammen und fragwürdigen Medikationen – auch innerlich für wohl temperierte Emotionen sorgen. Das Ganze löst bei der jugendlichen Hauptfigur aber Widerstände aus. Welche Wirkungsmacht hat hier die emotionale Darstellung?

Ich weiß nicht, ob sich die Frage darauf bezieht, dass der Text nicht nur handlungsorientiert erzählt. Das favorisiere ich nämlich auch bei anderen Texten, die nicht mit diesen Gegensätzen arbeiten und das emotionale Erleben als Hauptthema haben, weil ich das Erleben und Fühlen von Lebewesen als Haupthandlung ansehe. Für mich ist das beim Schreiben so und beim Lesen auch. Selbst wenn ein Buch beschreibend außen ist oder viel Handlung stattfindet, interessiere ich mich am meisten dafür, mit welchen Taktiken Lebewesen lernen, verarbeiten, kommunizieren, sich erinnern usw.

Bei „Sneaker“ sind das Lernen, Erkennen und Fühlen von Emotionen tatsächlich ein großer Teil der Handlung. Also warum wollen wir überhaupt so gerne leben, wenn das Leben gar nicht schön wäre und unsere Emotionen zu bewältigen nicht zu etwas nütze? Und woher kommen Emotionen, wenn nicht aus Widerstand, Kontakt, Natur – alles, was in Sneakers Realität aus Sicherheitsgründen reduziert ist.

Sneaker will in Folge der Begegnung mit der Amsel mitten in einem verheerenden Unwetter aus der Quarantäne ausbrechen. Dieses Handeln erinnert an das der Hauptfiguren in Ihren Romanen „Mädchenmeute“ und „Mädchenmeuterei“. Sie wollen sich mit den bestehenden, einengenden Situationen nicht abfinden und brechen daraus aus – und schlüpfen dafür notfalls auch in die Rolle von blinden Passagieren auf einem Containerschiff. Was macht diese Haltung – die Lust am Aufbegehren – für das literarische Erzählen interessant?

Wahrscheinlich mag ich Abenteuerliteratur. Abenteuerliteratur für Erwachsene klingt nach einem Unterhaltungsgenre. In der Kinderliteratur gibt es große Abenteuerbücher, die auch viel Gesellschaftliches mitverhandeln und als gute Bücher gelten. Genau in der Mitte, in der der junge erwachsene Mensch sich auf den Weg macht in diese noch nicht mitgestaltete, vorgefundene Welt zum Wundern und Wütend sein, liegt für mich der größte Reiz. Denn hier wird entschieden, wie das eigene Handeln sich auswirkt. Das gilt auch für die Kinderliteratur, aber da habe ich das Gefühl, dass dieser Prozess in Büchern genauso stattfindet.

In der Jugendliteratur geht es viel um soziale Probleme oder einfach ausgedachte Welten. Die Fast-Realität oder zukünftige Visionen interessieren mich am meisten. Die jugendlichen Figuren in meinen Texten bringe ich am liebsten an den Rand ihrer Wachstumsschmerzen und lasse sie meine Sehnsüchte nach Abenteuern in Wäldern oder auf dem Meer ausleben.


Dazu kommt: Junge Menschen sind in einer Umbruchszeit – zwischen Kindheit und Erwachsensein. So Vieles wird erkundet, ausprobiert, aber auch in Frage gestellt – eben auch was die Zukunftsvisionen angeht. In unserer Gegenwart sind junge Menschen mit einer wenig rosigen Zukunft konfrontiert, man denke an den Klimawandel (dessen verheerenden Folgen in „Sneaker“ aufscheinen). Wie blicken Sie auf junge Menschen in der Gegenwart? Beschäftigt Sie das beim Schreiben?

Ja, das beschäftigt mich sehr. Allein durch meine Kinder und durch die Arbeit für das GRIPS Theater, wo ich immer wieder direkt für diese Zielgruppe schreibe. Ich möchte, dass sie sich verstanden und gesehen fühlen, getröstet, unterhalten, angeregt, ermutigt. Ich selbst habe zu meinem inneren Kind, wie das so gesagt wird, zwar Kontakt, aber hauptsächlich stehe ich in Kontakt zu meinem inneren Teenie, weil dieser viel weiß und vieles zu Recht unfassbar findet. Dieses Gefühl begleitet mich durchgehend. Die Kraft, die darin liegt, alles gleichzeitig zu hinterfragen, schon längst verstanden zu haben, Kompromisse abzulehnen und sich nicht wiedererkennen zu wollen in den Älteren, die behaupten, dass sie auch so waren, liebe ich total. Darüber könnte ich jetzt noch ganz viel schreiben. Aber nur, um zu schwärmen. Es würde sich wiederholen, dass ich begeistert bin von jungen Erwachsenen und ihrer Masse an Potenzial.

Im Literaturbetrieb ist es leider immer noch Gang und Gäbe, die Verwendung expliziter emotionaler Ausdrücke mit weiblicher Literatur, Stichwort „Frauenliteratur“, zu assoziieren. Wie beurteilen Sie diese Genreeinteilungen und die gegenwärtigen Diskussionen dazu? Sehen Sie Fortschritte mit Blick auf die Zukunft?

Zumindest wird diese Einteilung jetzt hinterfragt und vielleicht werden auch irgendwann in jeder Buchhandlung die Regale anders beschriftet, auch was Unterhaltungsliteratur angeht und Jugendliteratur und auch die Covergestaltung.


Die Vergabe des Literaturpreises zu Ehren von W. G. Sebald beruht auf einem anonymisierten Beurteilungsverfahren. Der Bekanntheitsgrad der Person, die einen Text einreicht, spielt keine Rolle, ebenso wenig ihre Vita und ihr Geschlecht. Es zählt allein der Text. Fragen Sie sich gelegentlich, welche unterschiedlichen Vorstellungen die Jury in Ihrem Fall von Autorperson und Hauptfigur gehabt haben könnten? Wenn ja, welche könnten das sein?

Nein, das habe ich mich nicht gefragt. Dazu kann ich gar nichts antworten.


Preise spielen in der literarischen Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum – im „Betrieb“ –
eine große Rolle. Eine anonymisierte Einreichung, bei der nur der Text zählt, kann da in verschiedener Hinsicht hilfreich sein – für Newcomer, für Schreiberfahrene und für alle diejenigen, die sich keinen Geschlechts- oder sonstigen Kategorien unterwerfen wollen. Könnte es von Vorteil sein, auf all die Zuschreibungen zu verzichten, die mit der Person der Autorin oder des Autors verbunden sind? Und lässt sich dieses Modell – wie schon die offen gestaltete Form von „Sneaker“ – auf andere Gesellschaftsfelder übertragen?

Ich wäre sehr dafür, dass alle Wettbewerbe mit anonymisierten Texten durchgeführt werden. Eben aus den oben genannten Gründen. Das wäre rundum fair. Natürlich auch für Bewerbungen auf wissenschaftliche Stipendien, Arbeitsstellen, Wohnungen und so weiter. Das wäre großartig für alle.


Sie sind nicht nur als ausgezeichnete Romanautorin bekannt, sondern auch am Theater und
auf Lesebühnen sehr präsent. Welchen Stellenwert hat der direkte, intimere und vielleicht auch unterhaltsamere Kontakt zum Lesepublikum abseits der etablierten bildungsbürgerlichen Strukturen für Sie?

Für mich ist es eine Angewohnheit, meine Erfahrungen und Gedanken textlich zu sortieren und oft in unterhaltsamer Weise zu präsentieren. Das sorgt bei mir dafür, dass ich viele Erlebnisse tröstend verarbeiten kann, für mich und für andere. Diese Verarbeitung live zu präsentieren ist zusätzlich angenehm und dankbar. Das ist eine rundum schöne Arbeit. Im Gegensatz zur etablierten bildungsbürgerlichen Struktur sehe ich das nicht unbedingt, denn auch wird da verarbeitet und präsentiert, nur dass der Genuss daran bzw. der Gewinn daraus anders erzeugt wird.


Ist „Sneaker“ Teil eines größeren Prosavorhabens? Geht die Geschichte weiter?

Die Geschichte von „Sneaker“ soll weitergehen, auch wenn ich noch nicht dazu gekommen bin. In meinem Kopf gibt es viele Szenen und Ideen dazu und der Text steht eigentlich ganz oben auf meiner Liste. Dort muss ich ihn nur verteidigen gegen andere Ideen und Verpflichtungen.

Ganz herzlichen Dank an Kirsten Fuchs für die Beantwortung unserer Fragen, außerdem an Niels Beintker für die gemeinsame Fragenfindung.