3 letzte Tage

Im Jahr 2007 unternahm Thomas Honickel eine letzte Drehreise zu den Pariser Schauplätzen von »Austerlitz« und in die Picardie, wo Sebalds nächstes Buch spielen sollte und er auch zu arbeiten plante. Da dabei kein neues Interview entstand, fanden Honickels Aufzeichnungen über diese drei letzten Tage keinen Eingang in das »Drehtagebuch« in »Curriculum Vitae«.

Mi, 11.4.2007

Schon nach acht, sitze in Paris am Boulevard Auguste Blanqui und warte im Le Havanne auf meinen Apéritif. Wie hat Sebald nur hierher gefunden? Weil die Redaktion von „Le Monde“ ums Eck liegt? Weil die „Commune“ von hier kam? Schon morgens um neun fahre ich zum Friedhof Montparnasse. Spaziere zuerst blind herum, frage dann aber doch nach einer jüdischen Abteilung, bin zuerst an der falschen (weil ich Sebald wieder einmal nicht richtig gelesen hatte), dann gehe ich doch über die Straße zum abgelegenen Teil. Beeindruckend.

Und Filmen hier mangels Besuchern überhaupt kein Problem, wo die Aufpasser sonst ständig sofort um die Ecke biegen. Halte mich lange hier auf, gäbe es das als Beruf, wäre ich vielleicht Friedhofsbesucher geworden. Über den Boulevard Périphérique zur Pont Mirabeau, wo die Leiche von Paul Celan gefunden worden ist. Hektischer Verkehr, ich filme die trüb braune Seine und das Wohnhaus in der Avenue Zola No.6 (das vielleicht gar nicht das richtige ist). Was tun? Manchmal muss man einfach daran glauben wollen, dass man am „richtigen“ Ort ist.

Dann vorbei am neuen Musée de Quai Branly, immer weiter nach Osten, den ganzen langen Boulevard Saint Germain entlang, über den Boulevard Périphérique hinaus bis nach Maison-Alfort. Düstere Lagerhallen, finde das Veterinärmuseum Fragonard sofort, ein gähnender Farbiger winkt mich durch. Viel Publikumsverkehr kann es hier nie gegeben haben. Filme seelenruhig aus der Hand die von Sebald beschriebenen Scheußlichkeiten in den alten Vitrinen. Fühle mich wie in einer anderen Zeit.

Um das Licht auszunützen, schnell wieder zurück zur Bibliothèque Nationale, wo mich schnell ein Wachmann verscheucht, obwohl ich noch hundert Meter von den Ecktürmen entfernt bin, aber gleichwohl schon auf den Treppen. Aber ich kriege meine Totale, geschimpft über diesen seltsamen Betrieb hat Sebald schon genug.

Ringsherum Luxusbebauung und irgendwo ein kleines Hinweisschild für das „Camp d’Austerlitz“ (ein Außenlager von Drancy, wo von jüdischen Bürgern geraubte Möbel in Lagerhallen gesammelt wurden), aber letztlich sind die Spuren verwischt. Über die Passerelle Simone de Beauvoir überquere ich die Seine und komme in einen Park, wo seit Neuestem die Cinémathèque Francaise untergebracht ist. (Ich sündige und sehe mir die Ausstellung über zehn Magnum-Fotografen im Schnellgang an). Dann wieder auf die Südseite und zu FRIGOS, einer riesigen Halle mit Künstlerateliers, in der eine alte Dampflok vom Typ TY2 eingemauert sein soll, wie sie einmal Juden von Drancy nach Polen gefahren hat. Ich hatte das in einer Reportage des ZEIT-Magazins gelesen und nicht recht geglaubt. Doch auf einmal stehe ich vor dem Künstler Jean-Michel Frouin, der diese Lokomotive in Polen gekauft und ihren Transport hierher bezahlt hat.

Es ist nicht zu glauben, hätte nur Sebald das sehen können. (Sagt er nicht in „Austerlitz“, dass die „ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt?“). Frouin schenkt mir einen Katalog von 1996, auf dessen Titel sein Augenpaar abgebildet ist (wie in Sebalds Gedichtband „Unerzählt“ mit Jan Peter Tripp), im Inneren Bilder, die an den Holocaust erinnern: statt eine Leinwand aufzuziehen, hat er dafür alten Matratzenstoff genommen und Farbe wie Blut aufgetragen. Sehr, sehr seltsam. Nachts wälze ich mich herum. Ich habe zu wenig Nachtaufnahmen im Film, wo die jetzt noch herkriegen? Soll ich noch bei der Salpêtrière vorbei, dem historischen Krankenhaus, das Sebald kurz erwähnt? Anselm Kiefer hat einmal die Krankenhauskapelle mit der Installation „Chevirat Ha-Kelim“ bespielt. Also sicher sinnvoll. Läuft mir jetzt die Zeit davon? Jeder Tag in Paris kostet.

Do, 12.4.2007

Schon nach elf, bin auf meinem Zimmer, in den die riesige Krone eines Walnussbaumes mit ihren Kerzen fast hineinwächst. Total groggy. Am Morgen mit der Métro in die Rue Richelieu zur alten Bibliothèque Nationale, in der noch Walter Benjamin gearbeitet hat. Fast unmöglich, dafür eine Filmgenehmigung zu erhalten, wie ich in den frühen neunziger Jahren erfahren musste, als ich einen Film über Walter Benjamin und sein „Passagenwerk“ drehte. Durch eine Glasscheibe hindurch lässt sich der alte prunkvolle Lesesaal bewundern, ich filme einfach durch die Scheibe.

Dann schnell weg. Man darf sich nie auf eine Diskussion einlassen. Ich nehme die Gelegenheit beim Schopfe und besuche die Atget-Ausstellung im Hause. Schon früh hat er manisch alle Facetten von Paris fotografiert. Soll noch jemand sagen, Atget habe keine Menschen fotografiert. Toll, toll, toll. Dann gehe ich über die Passage Choiseul, wo Céline aufwuchs (aber das ist eine andere Geschichte!), zurück und treibe mich um die Gare d’Austerlitz herum, filme die Gleise; niemand hindert mich. Eine kleine Tafel, welche an die deportierten Juden erinnert, ist irgendwo ganz klein im Innenhof untergebracht, während auf der Frontseite groß der Pariser gedacht wird, die bei der Befreiung der Stadt „pour la France“ ihr Leben ließen. Im Bahnhofsrestaurant eine Pastete. Ich muss auf einen Parkplatz warten.

Drückende Hitze. Dann hoch zur Salpêtrière, doch ziemlich bald biegen zwei junge Ärzte mit weißen Kitteln um die Ecke und fragen mich aus. Von W.G. Sebald je gehört? Oder „Austerlitz“? Keine Spur. Fahre kurz zum Hotel an der Place d’Italie und spaziere hoch auf die Butte aux Cailles. Das Haus Cinq Diamant No.6 (Sebald!) hat seltsamerweise gar keine Haustüre. Dafür entdecke ich einen Minipark mit blühenden Bäumen, der sich Parc Brassai nennt. Eine winzige Straße heißt Rue Atget. Wie schön. Ruhe mich auf dem Zimmer aus, dann fahre ich noch einmal zur Salpêtrière, jetzt geht’s besser. Doch irgendwann stoppen mich doch noch zwei schwarzgekleidete Wachmänner. Auf dem Rückweg filme ich die Gleise der Gare d’Austerlitz durch die Gitter einer Brücke. Dann wieder aufs Zimmer. Zweifel, wie gut mein Material tatsächlich ist. Gehe ich zu hastig vor?

Fr, 13.4.2007

Zehn Uhr, sitze im Le Havanne. Heute ist es nicht so heiß. Nachts wenig geschlafen. Paris ist voll zu Ostern, mir tun die Eltern leid, die ihre quengelnden Kinder da durchziehen müssen. Ich breche auf nach Laon in der Picardie, ewige Fahrerei. Am Montag beginnt der Schnitt… 25 Tausend Kilometer habe ich heruntergerissen, wieviele Reisen waren das? Insgeheim freue ich mich auf das Alter (aber wann beginnt das als Freiberufler?), wenn ich in (m)einem großen Haus inmitten der Bücher und von einem schönen Garten umgeben wohnen kann. Man lebt immer in der Zukunft. Oder in der Vergangenheit.

Punkt 20 Uhr sitze ich auf dem Marktplatz von St. Quentin. Alles ist etwas schäbig hier. Habe noch nicht eingecheckt (was ich dann später bei Ibis tun werde, was mir zu einem deftigen Fußpilz verhilft) und lausche den Rathausglocken. Das Bittere ist, dass das Grand Hotel noch schäbiger wirkt als das Kettenhotel Ibis. Auf dem Weg hierher in Craonne alte Panzer gefilmt. In einem blühenden Rapsfeld ein Denkmal für – ja wen? – Napoléon. Hier in der Gegend hat der Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg getobt, ein bayerisches Regiment lag hier, zu dem Sebalds Großvater zählte und auch der Wertacher Nazimaler Hengge, der hier am Chemin des Dames verwundet wurde. Ein Tiefbunker im Schützengraben war die „Drachenhöhle“ (Caverne du Dragon), die sich heute besuchen lässt. Ich habe mir nur die Neudrucke historischer Postkarten besorgt und saß sonst apathisch herum. Kein Sebaldleser treibt sich an solchen Stätten herum, das sind in der Regel Militärfanatiker. Und Zerstörungsspuren lassen sich beim besten Willen nicht mehr ausmachen. Sebald muss selbst hier gewesen sein, denn seiner Vorstellung nach lagen damals sein Großvater und der seiner französischen Freundin Marie, die aus der Gegend kommt (und die er in „Austerlitz“ verewigt hat), gegenüber. Mit Interesse hat er die Aufzeichnungen des Letzteren studiert und in München im Staatsarchiv und im Militärarchiv recherchiert. Doch zu dem geplanten Buch scheint es nur Fragmente zu geben. Er wollte das Buch in einer alten einsamen Mühle schreiben, die der Familie von Marie gehört und die renoviert werden sollte.

Ich habe sie am Nachmittag in Berthénicourt bei Laon aufgesucht, wo ich in ihre Tante und deren Tochter hineingelaufen bin, die mir bei der Nennung des Namens „Marie“ und „Sébaald“ sofort aufgeschlossen und alles gezeigt haben. Der Sommer ist mit großer Plötzlichkeit gekommen, jetzt am Abend sitzen alle Leute draußen. Ich trinke einen letzten Apéritif. Es ist immer schmerzvoll, wenn man spürt: jetzt ist Drehschluss! Und man muss heimfahren…