Kategorien
Aktuelles

»Ich lebe mit Sebalds Werk«

Ein Gespräch mit Astrid Seeberger über ihr Schreiben in Schweden und die Arbeit der schwedischen Sebald-Gesellschaft

Die schwedische Autorin Astrid Seeberger, geboren 1949, ist eine der Mitbegründerinnen von Sebaldsällskapet, unserer schwedischen Schwestergesellschaft.

Am 14. Mai 2022 veranstaltet Sebaldsällskapet ein Sebaldsymposium »W.G. Sebald in the 21st century« bei der Sigtuna Stiftung.

Ihr Lebenslauf ist sehr interessant. Sie sind ja mit der literarischen Passion, soweit ich das weiß, nach Schweden gegangen und haben auch ein geisteswissenschaftliches Studium aufgenommen und gleichzeitig medizinische Interessen gehabt. Können Sie etwas dazu erzählen, wie diese Doppelbegabung sich entwickelt hat, die Literatin und die Ärztin?

Ich bin als 17-Jährige nach Schweden gefahren, allein. Ich wollte Deutschland verlassen wie so viele, die der Nachkriegsgeneration angehört haben. Ich hatte den Scheffelpreis des Volksbundes für deutsche Dichter gewonnen mit einem Abituraufsatz über Albert Camus’ Der Mythos des Sisyphos. Es gab da kleine deutsche Zeitschriften, die mir angeboten haben, Artikel über Schweden zu schreiben, ganz, ganz anspruchslos. Damals wurde ja das schwedische Volksheim sehr diskutiert in Deutschland, auch die „schwedische Sünde“, die mich natürlich noch mehr interessiert hat. Das habe ich natürlich nicht meinen Eltern gesagt. Ich bin nach Schweden gefahren, nicht nur um Artikel zu schreiben, sondern um dort zu leben. Ich wollte weg von Deutschland, nicht mehr Deutsch reden, nicht mehr Deutsch schreiben, nicht mehr Deutsch denken. Ich wollte Schwedin werden und gleichzeitig Schriftstellerin, in einer neuen Sprache. Ich habe Film- und Theaterwissenschaft und Philosophie in Stockholm studiert und Artikel geschrieben, aber dann bin ich dieser „schwedischen Sünde“ begegnet und bekam ein Kind. Und da brauchte einen ordentlichen Beruf. Deswegen habe ich Medizin studiert und wurde Ärztin. Aber die ganze Zeit habe ich geschrieben, früh morgens und spät nachts. Aber es hat sehr lange gedauert, bis ich gewagt habe, etwas zu veröffentlichen.

Aber Ihre Romane Ihrer Familiengeschichte, die sind dann auf einige Resonanz gestoßen.

O ja, die wurden wirklich gut aufgenommen, sowohl in Schweden als auch in Deutschland. Das hat mich natürlich sehr gefreut und jetzt schreibe ich nur und bin Literatin. Das ist das Schönste.

Sie sitzen an einem neuen Projekt, wenn Sie das verraten dürfen.

Ja, ich bin beinahe fertig mit meinem neuen Roman. Und dann habe ich auch ein Schauspiel geschrieben, das auf Deutsch übersetzt worden ist. Mal sehen, ob es ein deutsches Theater aufnehmen wird.

Schreiben Sie auf Deutsch oder auf Schwedisch? In beiden Sprachen?

Nein, nein, ich schreibe nur auf Schwedisch. Ich kann nicht mehr auf Deutsch schreiben. Ich habe zu lange in Schweden gelebt, ich habe die Sensibilität für die Valeurs der Worte verloren. Das ist sehr, sehr schade, finde ich. Seit vielen Jahren lese ich ja wieder deutsche Literatur und liebe die deutsche Sprache, aber als Schriftstellerin habe ich sie verloren.

Sind dann Schwedisch und die schwedische Sprache, ist beides Ihre Heimat geworden?

Die schwedische Sprache, ja, die ist, wenn man das sentimental ausdrückt, sowohl die Sprache meines Intellekts als auch meines Herzens. Aber ist Schweden meine Heimat? Ich finde, das Wort Heimat ist sehr problematisch. Wo ich zu Hause bin? In der zentraleuropäischen Kultur. In Schweden fühle ich mich immer weniger als Schwedin. Aber wenn ich in Deutschland bin, fühle ich mich auch nicht als Deutsche. Beide Länder haben sich natürlich in mir verwurzelt. Aber zu Hause bin ich an und für sich nur in der Literatur, in der Musik, in Bildern.

Das ist eine interessante Parallele zum Schriftsteller W.G. Sebald, dieses In-England-beheimatet-Sein mit dem Blick nach Deutschland, dann nicht mehr zurück zu können. Ist das ein Grund, warum Sebald Sie interessiert hat, oder wie sind Sie zu Sebald gekommen?

Es begann mit seinem Elementargedicht. Ein deutscher Freund hat mich angerufen und gesagt, das musst du lesen, das ist richtig große Literatur. Ich habe es gelesen und wurde so betroffen. Mein Großvater hat immer Schriftsteller, die ihn sehr berührt haben, seine Brüder genannt: ‚we few, we happy few, we band of brothers‘. Natürlich gehörten da auch „sisters“ dazu. Und für mich gehört W. G. Sebald dazu. Ich bin ja auch in Süddeutschland aufgewachsen, in der Schwäbischen Alb, in einer Welt, die sehr an Wertach erinnert. Auch in meinem kleinen Städtchen, oder es war ein großes Dorf, war die Grenze zwischen Leben und Tod immer dünn. Die Toten waren sehr, sehr präsent in der Vorstellung. Und es gab da, wie in Wertach, ein Schweigen über die nazistische Vergangenheit. Sebald berichtet ja von diesem Erlebnis, als er zum ersten Mal in der Schule einen Film von der Befreiung von Bergen-Belsen gesehen hat. Dieses Erlebnis hatte ich auch. Ich war sehr von der deutschen Geschichte, von dem, was Nazi-Deutschland da begangen hat, betroffen. W. G. Sebald nannte es ja einen Rucksack, den wir das ganze Leben lang tragen müssen. Das ist auch so bei mir, diese Frage, wie diese fruchtbare Koexistenz zwischen Juden und Deutschen auf eine so furchtbare Weise enden konnte. Diese Frage hat mich immer sehr, sehr beschäftigt und beschäftigt mich auch heute noch. Es gibt sehr viele Berührungspunkte. Sebalds Mutter hieß Rosa, meine Mutter auch. Und ich hatte auch einen Großvater, der sehr, sehr viel für mich bedeutet hat. Es gibt diese Koinzidenzen.

Wie kam es zu der Gründung der Schwedischen Sebald Gesellschaft? Ist der Entschluss irgendwann gereift und Sie sind das angegangen?

Ich leitete zwanzig Jahre lang ein literarisches Forum an verschiedenen Universitäten. Da kamen die großen schwedischen Schriftsteller, Künstler und Schauspieler, auch der Nobelpreisträger Tomas Tranströmer, und haben entweder selber eine Lesung gemacht oder einen Vortrag gehalten oder ich führte Gespräche mit ihnen. Da bekam ich die unwiderstehliche Idee, ein Programm über W. G. Sebald zu machen, der zu dem Zeitpunkt schon seit vielen Jahren gestorben war. Einer meiner Gesprächspartner in diesem Programm war Mats Almegård, ein ausgezeichneter junger schwedischer Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Nach der Veranstaltung gingen wir zum Essen. Es war Sommer, wir saßen auf einer Terrasse, Ausblick über den See, und Mats sagte: Sollen wir nicht eine Sebald-Gesellschaft gründen? Natürlich, habe ich gesagt, ich brauchte nicht einmal nachzudenken, und dann haben wir sie am 13. November 2018 gegründet. Wir finden nämlich beide, dass W. G. Sebald ein sehr wichtiger, ein notwendiger Schriftsteller ist in dieser Zeit.

Dass Sie da andere Leute gefunden haben, die mitarbeiten oder beitreten, das war dann kein großes Problem? Oder wie hat sich das entwickelt?

Das war kein Problem. Wir hatten ja Freunde, die auch von Sebald sehr begeistert waren. Die haben die Gründe, die wir hatten, die Schwedische Sebald Gesellschaft zu gründen verstanden und mit uns geteilt.

Was haben Sie sich für Pläne gemacht, welche Aktivitäten werden Sie sich vornehmen?

Wir hatten ein Symposium, wir hatten Vorträge, auch Lesezirkel. Es war natürlich schwer jetzt während der Pandemie, aber wir hatten auch einen Abend mit dem Thema Sebald und das Judentum, zusammen mit dem Goethe-Institut und der Kulturorganisation Judisk Kultur (Jüdische Kultur) in Schweden. Wir haben da eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit.

Und die sind dann auch offen für das Thema und für den Literaten?

Ja, die sind sehr, sehr offen.

Und für die Zukunft planen Sie auch etwas zu schreiben über Sebald? Oder werden das weitere Kulturveranstaltungen sein? Auf welche Orte beziehen sich die oder sind die in ganz Schweden?

Bisher haben wir es nur in Stockholm gemacht. Voriges Jahr waren auch eine Diskussion und Vorträge über Sebald in Göteborg. Ich habe auch einen Essay geschrieben über Sebald und das Judentum und einen Essay, an dem ich arbeite, er ist auch fast fertig, warum Sebald notwendig ist in dieser Zeit.

Wie kann man Sebalds Lage in Schweden beurteilen? Seine Sachen liegen alle in Übersetzung vor. Sie stoßen da auf Interesse, einen deutschen Autor einem schwedischen Publikum zu vermitteln?

Sebald ist ja von einer kongenialen Übersetzerin übersetzt worden, Ulrika Wallenström, die diese wunderschöne Sprache von Sebald so schön eingefangen hat. Sebalds Werke sind große Literatur, die einen aufmerksamen Leser brauchen. Vielleicht lesen Schriftsteller aufmerksamer. Vielleicht ist Sebald deswegen der Schriftsteller der Schriftsteller in Schweden. Schriftsteller lieben Sebald, das große Publikum jedoch ist nicht so mit Sebald vertraut und deswegen finden wir es wichtig, Symposien und Seminare usw. zu arrangieren, damit sich der Leserkreis vergrößert.

In Schweden selbst haben Sie aber auch eine lebhafte literarische Szene.

Ja, es ist eine lebhafte literarische Szene, aber mehrere der großen schwedischen Schriftsteller sind ja leider gestorben wie Lars Gustafsson und Per Olov Enquist. Zum Glück gibt es sehr gute jüngere Schriftsteller wie Steve Sem-Sandberg, der ja auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Aber der Buchmarkt in Schweden wird leider immer mehr von marktökonomischen Aspekten gelenkt und nicht von einem Streben nach literarischer Qualität.

Wenn Sie jetzt einmal einen Wunsch äußern dürften in Bezug auf W.G. Sebalds Werk. Was würden Sie erreichen wollen, was würden Sie sich wirklich wünschen, damit Sie sagen, Ihre Aktivitäten waren von Erfolg gekrönt?

Es wäre ja sehr, sehr schön, wenn wir mehr Veranstaltungen halten könnten und Sebald dem großen Publikum näherbringen könnten.

Ein Einwand, mit dem wir als Deutsche Sebald Gesellschaft immer wieder konfrontiert worden sind, lautet ja: Ob unser Max – das ist ja der Spitzname von Sebald – ob unser Max das alles gewollt hätte? Hätte er diese Vereinsmeierei mitmachen wollen, hätte er es befürwortet, was da in seinem Namen geschieht usw. Geht Ihnen das auch so, fragen Sie sich das eigentlich?

Ja, die Frage haben wir uns natürlich auch gestellt. Deshalb ist es auch wichtig, dass man eine hohe Qualität hält und dass es nicht irgendwie so ein Sebald-Fanclub wird, sondern dass man die Ambition, die Sebald mit seinem Werk hatte, verantwortungsvoll verwaltet. Das versuchen wir wirklich zu tun und gewisse Themen zu problematisieren. Es gibt ja sehr wichtige Aspekte, die Sebald aufgreift, z. B. wie man über die Judenverfolgung und den Holocaust schreibt. Nach seiner Meinung, die ich teile, kann man den Holocaust, wenn man nicht selber davon betroffen war, nur „tangentiell“ schildern, wie es zum Beispiel Lanzmann in seinem Film Shoah getan hat. Es gibt jedoch heute so viel sensationsbetonte Literatur darüber, die Sebald verabscheut hat. Wir versuchen, verschiedene Themen mit Ausgangspunkt von Sebalds Werk gründlich zu diskutieren und die Bedeutung und Schönheit seines Werkes zu vermitteln.

Haben Sie Kontakt zu Sebalds Familie? Oder halten Sie sich außen vor?

Nein, wir haben keinen Kontakt. Ich habe natürlich Kontakt mit Uwe Schütte, der Sebalds Frau kennt. Aber ich habe sie noch nie selber getroffen. Sebald war ja immer sehr privat mit seinem Leben, was ich sehr schön finde. In Schweden sind Zeitungen, Fernsehen und Radio heute mehr interessiert an der Person des Schriftstellers als am Werk. Es gibt da auch einen Exhibitionismus bei den Schriftstellern, der Sebald nicht gefallen hätte und der mir auch nicht gefällt. Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland Literatur noch immer seriöser behandelt wird.

Es wäre doch vielleicht einmal ganz schön, die schwedische Sebald Gesellschaft und die Deutsche Sebald Gesellschaft würde etwas zusammen machen, eine Veranstaltung. Das könnte man doch wirklich einmal andenken für die nächsten Jahre.

Das wäre sehr, sehr schön, über Sebald gemeinsam zu diskutieren und auch gewisse Themen, die für ihn so wichtig waren, zu vergleichen, wie die in Deutschland und wie sie in Schweden behandelt werden. Ich finde es auch wichtig aus einem anderen Grund. In Schweden ist die Literaturszene noch immer sehr angelsächsisch und französisch orientiert und die deutsche Literatur hat noch nicht den Platz, den sie verdient. Auch deswegen finde ich, wäre es wichtig, wenn wir zusammenarbeiten könnten.

Was ist ihr Lieblingswerk von W.G. Sebald? Oder gibt es eine Passage, von der Sie sagen, dass sie Sie besonders berührt, beeinflusst hat, oder die Sie für besonders wichtig halten?

Das ist eine sehr, sehr schwere Frage. Zum Beispiel Die Ringe des Saturn und Die Ausgewanderten haben mir sehr, sehr viel bedeutet. Aber auch Austerlitz. Es ist sehr schwer für mich, da nur ein Werk zu wählen. Es gibt sehr viele Passagen, die sehr viel für mich bedeuten. Ich zitiere ja Sebald in meinen Büchern. Ich lebe mit Sebalds Werk, es gibt Zitate, die ständig bei mir sind.

Das Interview wurde geführt von Kay Wolfinger im Juni 2021.